Tenor:
„Es übersteigt regelmäßig die an einen durchschnittlichen Rentenversicherten zu richtenden Sorgfaltsanforderungen, einen umfangreichen und schwer verständlichen Altersrentenbescheid aufmerksam zu Ende zu lesen.“
Es ist weniger der Tatbestand als solcher, der zur Entscheidung anstand, als vielmehr die Entscheidungsgründe, die aufhorchen lassen. Sie dürften vielen Menschen aus dem Herzen sprechen, die schon einmal Post von der Deutschen Rentenversicherung erhalten haben – oder auch von anderen öffentlichen Institutionen und Behörden.
Worum ging es?
Der im Jahr 1953 geborene Kläger hatte bereits im Alter von 14 Jahren seine schulische Laufbahn beendet und eine Berufsausbildung zum Maler begonnen. Zuletzt war er 30 Jahre lang als Gärtner rentenversicherungspflichtig beschäftigt.
Im Jahre 1992 wurde er von seiner Ehefrau geschieden. In dem Scheidungsurteil wurde ein Versorgungsausgleich der während der Ehe erworbenen Anwartschaften gegenüber den Trägern der Altersversorgung festgelegt.
Der Kläger beantragte 2016 die Gewährung einer Altersrente und gab im Antragsformular zutreffend an, dass ein Versorgungsausgleich durchgeführt worden sei. Mit Bescheid vom 16.01.2017 bewilligte ihm die Beklagte (Gesetzliche Rentenversicherung) ab dem 01.02.2017 die Rente. Darin wurde jedoch der Betrag, der seiner Ex-Frau wegen des Versorgungsausgleichs zustand, nicht von der Rente abgezogen. Vielmehr wurde der Betrag versehentlich der Rente des Klägers zugeschlagen.
Erst im Jahre 2019, als die Frau ihre Rente beantragte, wurde der Fehler vom Rentenversicherungs-Träger bemerkt. Dieser forderte den überzahlten Betrag in Höhe von rund 7.000 Euro vom Kläger zurück. Nach dem Widerspruch einer vom Kläger bevollmächtigten Rechtsanwältin verzichtete der Träger der Rentenversicherung auf ein Drittel seiner Forderung, weil er selbst für den Fehler verantwortlich war.
Allerdings meinte der Rentenversicherer, dass der Rückzahlungsanspruch grundsätzlich gerechtfertigt sei, denn auf Seite 28 im Begründungsteil des insgesamt 34-seitigen Rentenbescheides sei die fehlerhafte Berechnung zu erkennen gewesen. Dort sei darauf hingewiesen worden, dass der Versorgungsausgleich zugunsten und nicht zulasten des Rentners durchgeführt worden sei.
Die Klage
Der Mann reichte Klage gegen den Rentenversicherungsträger ein und berief sich dabei auf Vertrauensschutz. Im Vertrauen auf die Richtigkeit des Rentenbescheides habe er die überzahlte Rente ausgegeben. Im Übrigen habe er den umfangreichen Bescheid nicht verstanden. Der Fehler sei für ihn als juristischen Laien auch nicht erkennbar gewesen.
Die Richter des Sozialgerichts Karlsruhe zeigten dafür Verständnis. Sie hielten den Rückforderungsanspruch des Rentenversicherungsträgers für unbegründet und gaben der Klage des Rentners statt.
Die Entscheidungsgründe des Gerichts sind bemerkenswert
Ein Anspruch auf Rückforderung des überzahlten Betrags hätte dann bestanden, wenn dem Kläger grobe Fahrlässigkeit hätte vorgeworfen werden können. Dieser Vorwurf wäre jedoch nur dann berechtigt, wenn dem Kläger der Fehler nach seinen subjektiven, also persönlichen, Erkenntnismöglichkeiten „in die Augen hätte springen müssen“. Davon gingen die Richter aufgrund des Bildungsniveaus des Klägers aber nicht aus.
Es liege fern, von diesem Kläger eine verständige Lektüre eines mehr als 34-seitigen Rentenbescheides nebst „Hinweisen und Erläuterungen zum Rentenbescheid“ zu erwarten. Derartige Bescheide weisen in weiten Teilen eine unumgänglich komplizierte Darstellung auf und würden deswegen von Angehörigen sehr breiter Bevölkerungsschichten „als ein bürokratisches und schlechterdings unbegreifliches Ungetüm“ angesehen.
Im Hinblick auf die Berücksichtigung des Versorgungsausgleichs im Rentenbescheid stellt das Gericht klar: „Selbst doppelt staatsexaminierte Volljuristen beherrschen dieses hochkomplexe Rechtsinstitut regelmäßig allenfalls in Grundzügen, und zwar selbst dann, wenn sie zufällig einen familienrechtlichen oder sozialrechtlichen Studienschwerpunkt gewählt haben und fachlich überdurchschnittlich befähigt sind“.
Weiterhin führt das Gericht aus:
„Wenn aber selbst Berufsrichter erster und zweiter Instanz der Landessozialgerichtsbarkeit vor Textlängen jenseits der 20.ten Seite zuweilen kapitulieren, kann einem viel weniger gebildeten und weniger rechtstextsicheren Maler und Gärtner mit einer 45 Jahre zuvor abgeschlossenen, nur rudimentären Schulbildung nicht grobe Fahrlässigkeit vorgeworfen werden, nur, weil er auf Seite 28 einen Präfix sorglos überlesen habe, da ihm die sehr schwer verständlichen Zusammenhänge zwischen Familien- und Rentenrecht im Zusammenhang mit einer vor einem Vierteljahrhundert erfolgten Scheidung infolgedessen „hätten einleuchten müssen“. Es wäre mit Recht und Gesetz nämlich unvereinbar, an relativ ungebildete Sozialleistungsempfänger bei der Lektüre bürokratischer Textungetüme solche Sorgfaltsanforderungen zu stellen, denen nicht einmal die einschlägig spezialisierte Landeselite genügt.“
Ein durchschnittlicher Rentenversicherter genüge seinen Sorgfaltspflichten daher auch dann,„wenn er von dem untauglichen Versuch, ein Verständnis derartiger Bescheide zu entwickeln, nach der probeweisen Lektüre der ersten ein bis zwei Seiten Abstand nimmt“. Eine Ausnahme hiervon gelte nur für jene Fälle, in denen die errechnete Rentenhöhe erheblich von der in Anbetracht des individuellen Versicherungsverlaufs zu erwartenden Rentenhöhe abweicht.
Im Übrigen seien Rentenempfänger mit niedrigem Bildungsniveau nicht dazu verpflichtet, „wieder und wieder sinnlos ihre Bewilligungsbescheide vollständig zu studieren“, obwohl dies zu nichts führt, weil der Bescheid für sie persönlich ein Buch mit sieben Siegeln bleibe.
Sibyllinische Verse
Das SG Karlsruhe hat richtig erkannt, dass Rentenbescheide für den Empfänger oft den sibyllinischen Versen antiker Orakelsprüche ähneln, die man so oder so auslegen konnte oder gänzlich unverständlich waren. Dies ist sicherlich zu einem Großteil der Komplexität der Materie geschuldet und dem nachvollziehbaren Versuch, rechtssichere Dokumente erstellen zu wollen. Doch sollte man sich seitens der Verfasser durchaus einmal fragen, ob es nicht Verbesserungsmöglichkeiten bezüglich der Formulierungen und Darstellungen in den Bescheiden gibt, so dass deren Empfänger auch die Chance haben, sie im Ansatz zu verstehen. Dies gilt übrigens nicht nur für die Korrespondenz der Träger der gesetzlichen Rentenversicherung, sondern auch für manch anderes behördliche Schreiben.
Als gerichtlich zugelassener Rentenberater helfen wir bei der Interpretation dieser sibyllinischen Verse und stehen auch darüber hinaus beratend zur Seite. Gerne unterbreiten wir Ihnen ein Angebot für diese und weitere Dienstleistungen.
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